Kreativität braucht Angstfreiheit

Wir sind kreative Wesen. Alle. Erwachsene hört man heute oft sagen: ich bin nicht so kreativ. Dabei hat jeder im Kindergarten gebastelt oder Bilder gemalt. In der Kindheit kannte unsere Imagination keine Grenzen und auch als Erwachsene erschaffen wir jede Nacht im Traum innere, dynamische Gefühlswelten – auch wenn viele sich morgens nicht daran erinnern. Warum haben wir im Alltag oft keinen unbeschwerten Zugang mehr zu diesem Potential?

Dafür gibt es viele mögliche Gründe. Unser Bildungssystem ist eher auf Anpassung und Reproduktion angelegt. Während der Pubertät werden neuronale Verknüpfungen zurückgebaut und nur die behalten und verstärkt, die wir häufig nutzen. Sind wir seltener kreativ, baut sich auch die dafür benötigte zerebrale Infrastruktur zurück. Dazu kommt: Wir haben keine positive Fehlerkultur – Scheitern wird oft bestraft, sei es monetär oder sozial. Daher haben wir Angst davor, Fehler zu machen. Und verlieren den Mut, Neues auszuprobieren.

Der kürzlich verstorbene Bildungsforscher Sir Ken Robinson erzählt folgende Geschichte:

Eine Sechsjährige die sonst nie aufpasst im Unterricht, sitzt an ihrem Pult und malt eifrig über ein Blatt gebeugt. Die Lehrerin ist neugierig und fragt: „Was malst du denn da?“ – Darauf die Kleine: „Ein Bild von Gott.“

Die Lehrerin antwortet: „Aber wir wissen doch nicht, wie Gott aussieht?“

Darauf die Schülerin: „Gleich wissen wir es.“

Ob das Bild des Mädchens eher unbeholfen oder inspirierend aussieht? Daran verschwendet sie vermutlich keinen Gedanken. Nur so kann sie sich furchtlos an die große Aufgabe wagen, Gott zu zeichnen. Kreativität gedeiht nur im angstfreien Raum. Therapeuten wissen das: wenn Kinder nicht selbstvergessen spielen können, ist etwas im Busch. Wie sieht die „Spielkultur“ in Unternehmen aus? ‚Think outside the box’ wird oft gefordert – aber lässt die Kultur es auch wirklich zu? Wird die Suche nach unkonventionellen Ansätzen – inklusive mancher Sackgasse – tatsächlich immer belohnt? Und haben wir auch die entsprechenden Talente an Bord? Viele Unternehmen suchen in ihren Stellenanzeigen Querdenker – aber wehe, diese kommen tatsächlich. Dann zeigt sich, wie viel Innovation die bestehenden Strukturen vertragen.

Wirklich Großes entsteht oft dann, wenn jemand furchtlos die Grenzen des Bekannten hinter sich lässt. Natürlich kann dabei auch wirklich großer Mist raus kommen. Das ist das Risiko. No risk, no fun.

Ein gutes Beispiel dafür ist Hollywood. „My Big Fat Greek Wedding“ kostete weniger als eine Million und spielte mit völlig unbekannten Darstellern das 80fache seiner Herstellungskosten ein. In solch einem Fall spricht man gerne von einem Überraschungserfolg. Als gäbe es große Erfolge, die keine Überraschung und damit planbar sind. Die Wahrheit ist: Es gibt kein wirklich sicheres Rezept. Sonst würden es alle nachkochen.

Wer das Scheitern fürchtet, riskiert nichts. Wer nichts riskiert kann nicht wirklich kreativ sein. Wer nicht kreativ ist, geht ausgetretene Pfade, entwickelt keine Lösungen, macht nur mehr vom Gleichen aber nichts Neues. Wer nichts Neues zu bieten hat, ist austauschbar. Wer heute austauschbar ist, ist morgen ersetzlich und bald darauf aus dem Geschäft.

Wie können wir also unsere angeborene Kreativität anzapfen? Schauen wir dazu in unser Gehirn. Um trotz der Vielzahl an Sinneswahrnehmungen die sekündlich auf uns einstürmen steuerungsfähig zu bleiben, blendet unser Hirn alles aus was unwichtig erscheint oder sich als Routine wiederholt. Wir fahren Auto und nehmen es kaum noch wahr, wie wir schalten und lenken. Denken wir jedoch „bewusst“ nach, bewerten und sortieren wir auch gleich. Um neuen Ideen Einlass gewähren zu können, brauchen wir – um es mit Aldous Huxley zu sagen – ein Loch im Filter. Wir müssen flüchtige Ideen hereinlassen und den inneren Bewerter und Kritiker stumm schalten, der sie sofort mit Bekanntem vergleichen und als tauglich oder untauglich beschriften will. Das Loch im Filter lässt Unorthodoxes durchschlüpfen. Das müssen wir vielleicht erst mal wieder üben. 

Was wir nicht üben, schläft ein. Der Kanal mag ein wenig verstopft sein und muss anfangs durchgepustet werden. Aber wenn es fließt, fließt es. When it’s cooking, it’s cooking. Das wissen vor allem Musiker und Schauspieler, die viel improvisieren. Es gibt kein Konzept, keinen Ablauf, das Stück entsteht live weil alle offen sind, einander zuhören, sich unterstützen wenn sie die Ideen anderer aufgreifen – und alle gemeinsam das Risiko eines Missklangs eingehen.

Wenn Kreativität sich ausdrücken möchte, ist das Medium egal. Ob wir Erfinden, Entwerfen, Schreiben, Malen, Basteln, Musizieren, Konstruieren oder Tanzen spielt keine Rolle. Oft fühlen wir uns zu einer bestimmten Ausdrucksart hingezogen weil wir damit bereits Erfahrung haben. Es ist nicht so entscheidend wie wir uns ausdrücken – sondern dass wir es tun.

Steve Jobs hatte bei seiner berühmten Stanford-Rede den Absolventen der Elite-Universität zugerufen: „Stay hungry, stay foolish.“ Seitdem haben viele darüber spekuliert, was genau er gemeint hat. Für mich bedeutet foolish sein: Spinnen im positiven Sinne. Vom Weg abkommen um nicht auf der Strecke zu bleiben. Die Vorstellungskraft nutzen. Und die guten Ideen pflücken. Sie liegen oft in der Luft. Rolling Stones Gitarrist Keith Richards beschreibt in seiner Autobiographie, dass die meisten seiner legendären Riffs nicht das Ergebnis von mühevollem Suchen waren – sondern ihm eben zugeflogen seien. So beschreiben das viele Musiker: die Inspiration geschieht schnell und mühelos. Aber das sind erst 50% des Ergebnisses. Die andere Hälfte ist Können und Fleiß. Beim Komponieren geht es um Struktur aber auch um das Dazufügen oder wieder weglassen. Miles Davis beschrieb, dass sein Geheimnis vor allem darin lag, zu wissen, welche Noten er nicht spielen sollte. Schließlich muss das Stück arrangiert und aufgenommen werden. Das macht gerade bei heutiger sehr produktionslastiger Musik den Großteil der Arbeit aus. Und hiervon können alle schöpferisch Tätigen ein Lied singen. Bei aller Kreativität, bei aller Schönheit des ersten Ideen-Impulses: danach beginnt erst die Mühe der Etappe. Denn: Ideen haben kann jeder. Sie umzusetzen bedarf Mut und Ausdauer.

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