Denken für Fortgeschrittene

Corona – wie unser Gehirn mit Bedrohungen umgeht

Terror, Brexit, Klimawandel, Corona – wir leben in unsicheren Zeiten. Wie gehen wir mit unsichtbaren und komplexen Bedrohungs-Szenarien um? Warum reagieren Öffentlichkeit und Politik eher halbherzig auf die drohende Klimaerwärmung (keine Verbote!) und so entschlossen (Ausgangssperre!) auf das Corona-Virus?

Die einen geraten in Wohlstandspanik und leeren Vorräte an Toilettenpapier und Nudeln an. Wieder andere gehen stark in die soziale Kontrolle (daheim bleiben!).

Die unterschiedlichen Reaktionen haben damit zu tun wie unser Gehirn funktioniert.

Dazu wollen wir in diesem Artikel zwei Funktionen unseres Gehirns kennenlernen. Der israelisch-amerikanische Kognitionspsychologe Daniel Kahnemann nennt sie in seinem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ einfach System 1 und System 2. Dies sind keine Hirnareale sondern zwei grundlegende Funktionalitäten wie Fühlen und Denken ineinander greift.

System 1 steht für Ahnung, Intuition, Assoziationen, Gefühle, unbewusste Gedanken, Erinnerungen – kurz: alles was schnell und großteils unbewusst abläuft.

Der Eiffelturm steht in … ? Die Antwort haben wir blitzschnell parat. Wir müssen nicht nachdenken. Ähnlich ist es beim Auto fahren. Die ersten Fahrstunden mögen noch eine bewussste Koordinationsleistung gewesen sein (Gang einlegen, Gas geben, Kupplung kommen lassen, Rückspiegel…). Nach kurzer Zeit haben wir diesen Ablauf automatisiert und fahren nun mühelos weite Strecken, achten nebenbei auf den Verkehr aber müssen über Schalten und Kuppeln nicht mehr nachdenken.

System 2 steht für den bewussten Teil unseres Denkens (der laut Kahnemann nur 2% unserer Gedanken ausmacht). Die Hauptaufgaben von System 2 sind Nachdenken, Prüfen, Berechnen, Impuls-Kontrolle usw. Was ist 17 x 34? Die Antwort erfordert, dass wir rechnen, das geht weder intuitiv noch blitzschnell. Es kostet ein wenig Mühe. Da die Evolution uns auf Effektivität eicht, vermeiden wir unnötigen Energieverbrauch und schalten System 2 nur ein, wenn wir es brauchen. Etwa wenn wir mißtrauisch oder schlecht gelaunt sind. Sind wir glücklich geht das Gehirn davon aus, dass alles in Orndung ist und prüft nicht nach. Soweit das Risiko von Positivem Denken als mentalem Programm. Leicht schlechte Laune macht uns aufmerksamer, wir denken schärfer, denn System 2 ist nun vorübergehend wach.

System 1 hingegen ist ständig aktiv und versorgt System 2 fortlaufend mit Eindrücken, Gefühlen und Vorschlägen. Wenn System 2 diese übernimmt werden daraus Überzeugungen. So entstehen in uns Interpretationen, Urteile und Entscheidungen ohne dass wir uns der zugrunde liegenden Wahrnehmungen und Assioziationen in System 1 oft bewusst wären.

Was hat das nun mit Klimawandel oder Corona-Krise zu tun? Ein Stichwort lautet: Framing. Frames sind Deutungsrahmen. Metphern die einen bestimmten Begriff nicht neutral sondern emotional gefärbt in unser Denken speisen.  Unsere Sprache steckt voller Metaphern und Frames die wir selten hinterfragen. Wir sprechen z.B. von Steuerflüchtlingen als wären das arme gejagte Kreaturen. Dabei ist Steuerhinterziehung ein höchst unsolidarischer Akt, begangen meist von sehr privilegierten Menschen. Wir sprechen von „denen da oben“ oder „sozial Schwachen“ und diese Frames prägen, wie wir über gesellschaftliche Verhältnisse denken. Interessant wird es nun beim Klimawandel, ein unglücklich gewählter Frame, denn Wandel ist nicht per se schlecht. Ein dramatischeres Wort wie Erdüberhitzung würde der Dringlichkeit eher gerecht werden. Noch deutlicher wird das beim Wort Erderwärmung. Das klingt wohlig und positiv. Auch andere Frames wie Atmosphäre oder Treibhauseffekt klingen nicht bedrohlich. In unseren eher kühlen Breitengraden ist Erwärmung in System 1 als positiv abgespeichert. Es bedarf schon einer abstrakten Denkleistung von System 2 um zu realisieren, dass Erwärmung langfristig etwas Bedrohliches sein kann.

Ganz anders bei Corona. Das Wort bedeutet Kranz – und viele denken an die Biersorte. Doch das war’s dann auch mit positiven Assoziationen. Begriffe wie Virus, Ansteckung, Symptome, Infizieren, Durchseuchung, Beatmungsgerät, Intensivstation oder Pandemie machen uns – verständlicherweise – Angst.

Frames sind so wirkungsvoll, weil sie auf abgespeicherte Vorerfahrungen zurückgreifen. Zum Stichwort Klimawandel haben wir kaum innere Bilder – und wenn dann eher positive. Wir wissen nicht wie die Welt aussieht wenn sie 3 Grad wärmer ist. Und die Bilder die wir kennen, sind für uns eher unter Wetter gespeichtert: Hitze, Dauerregen, Stürme. Alles Einzelereignisse in unserer bisherigen Lebenserfahrung.

Die Symptome sind – im Gegensatz zum Virus – sichtbar aber wirken großteils nicht bedrohlich. Im Gegenteil: zu heiße Sommer, milde Winter, Trockenheit, sogar Waldbrand, das erinnert uns an Urlaube im Süden. Angenehme Erinnerungen an laue Sommerabende in Italien oder Spanien werden aktiviert. System 1 findet das angenehm. Nur System2 kann Folgen abschätzen.

Bei einem Virus haben wir persönliche Erfahrungen auf die System 1 zugreift. Wir waren alle schon mal schwer krank, haben vielleicht Angehörige sterben sehen, kennen Filme wie Outbreak. Zu einer Pandemie haben wir innere Bilder – und keines davon ist positiv, sie sind alle schreckenserregend. Ein Virus – obwohl oder gerade weil unsichtbar – beunruhigt uns viel mehr als der großteils noch abstrakte Klimawandel. Ein unsichtbarer Feind macht mehr Angst, weil man ihn nicht direkt bekämpfen kann und weil er sich leichter als Idee im Gemüt festsetzt. Wir lesen nur davon und müssen schon verdächtig niesen. Wir überschätzen die Wahrscheinlichkeit direkt betroffen zu sein – dazu gleich mehr. Die allgemeine Ausbreitung hingegen unterschätzen wir weil wir uns exponentielles Wachstum schwer vorstellen können. System 1 ist ganz schlecht in Statistik. Da ergeht es so wie dem König in einem alten Märchen aus Persien. 

Ein kluger Höfling schenkte seinem König ein kostbares Schachbrett. Der war über den Zeitvertreib dankbar und sprach: „Sage mir, wie ich dich belohnen kann. Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen.“ Der Höfling wünschte sich nichts weiter als Reis. „Edler Gebieter, legt ein Reiskorn auf das erste Feld des Schachbretts, und dann auf jedes weitere Feld stets die doppelte Anzahl. Also zwei Reiskörner auf das zweite Feld, vier Reiskörner auf das dritte, acht auf das vierte und so fort.“ Der König war erstaunt über diesen bescheidenen Wunsch. Sofort traten Diener mit einem Sack Reis herbei. Bald stellten sie fest, daß ein Sack Reis gar nicht ausreichen würde, und ließen noch mehr Säcke aus dem Getreidespeicher holen.

64 Felder hatte das Schachspiel. Schon das zehnte Feld mußte mit 512 Körnern gefüllt werden. Beim 21. Feld waren es schon über eine Million Körner. Und beim 64. Feld stellten die Diener fest, dass es im ganzen Reich nicht genug Reiskörner gab, um es zu füllen. Mit seinem Wunsch wurde der Höfling zum reichsten Mann im ganzen Land und der König wünschte, er hätte in Algebra besser aufgepasst.

Warum überschätzen wir oft die Wahrscheinlichkeit von unwahrscheinlichen Ereignissen? Schuld ist die „Selektive Schockrisiko-Wahrnehmung“. Etwas kommt selten vor ist aber in seiner Wirkung so schockierend, dass System 1 es übergroß wahrnimmt.

Das bekannteste Beispiel sind Flugzeugabstürze. Diese sind selten, das Flugzeug gilt als sicherstes Verkehrsmittel. Aber der Absturz einer großen Passagiermaschine ist in den Schlagzeilen präsenter als der schwere Autounfall – an den wir uns längst gewöhnt haben. Was ist wahrscheinlicher? An einer Lebensmittelvergiftung zu sterben? Oder an einem Blitzschlag? Die intuitive Antwort lautet wahrscheinlich Lebensmittelvergiftung – davon haben wir schon gelesen, das hat uns aufgewühlt. Doch die Wahrscheinlichkeit tödlich vom Blitz getroffen zu werden ist 52 mal höher. Steht nur nicht jedes Mal in der Zeitung wenn es passiert. Auch als Bild ist der Blitzeinschlag beeindruckender

Mit einer Pandemie ist es ähnlich. Sie ist zum Glück ein sehr seltenes Ereignis.

Die Schockwirkung ist jedoch: es könnte jeden treffen. Und tödlich enden. Wir sehen die konkrete Gefahr nicht. Wir sehen allerdings allmählich Auswirkungen. Die Bilder aus China und Italien sind alarmierend. Neu hinzu kommen die gespenstisch leeren Plätze und Straßen. Versammlungsverbot, Abstand halten, zuhause bleiben, Ausgangsbeschränkungen. Ist das alles notwendig? Oder übertrieben? In dieser Frage sind wir auf Experten angewiesen. Und Politiker die hoffentlich auf die ‚richtigen’ Experten hören.

Hier steht unser Gehirn vor einem weiteren Problem: Komplexität. Wir sind ständig mit komplexen Problemen oder Fragestellungen konfrontiert. Früher war die Welt einfacher: bei den großen Entscheidungen (Krieg oder Frieden?) hatten die einfachen Bürger nichts mitzureden. Die privaten Entscheidungen waren überschaubar. Heute: reden die Bürger mit, Medien berichten, mehr öffentlicher Diskurs, vor allem auf Social Media findet statt. Wir wollen uns eine Meinung bilden und das auf der Basis von Fakten tun. Aber selbst wenn die Fakten unstrittig sind: ihre Interpretation und die Schlußfolgerungen sind meist strittig und vor allem: komplex.

Bestes Beispiel der letzen Jahre: der Brexit. Es war wohl die politische Schnapsidee des Jahrhunderts, die Briten zu fragen: EU – ja oder nein? Eine EU-Mitgliedschaft und ihr Vertragswerk sind hochkomplex. Die Folgen eines Austritts sind noch komplexer. Was haben die Briten getan? Das, was wir alle in so einer Überforderung tun: wir ersetzen eine schwierige durch eine leichte Frage. Das ist unsere Strategie bei Überkomplexität. Man könnte auch sagen: unser Denkfehler, weil er meist unbewusst ist.

Beispiel Wahlen. Wer liest schon Wahlprogramme? Die Frage in der Wahlkabine müsste lauten: Wird diese Partei oder Person in meinem Sinne entscheiden? Diese schwierige Frage ersetzen wir durch eine viel einfachere: Finde ich die Person auf dem Wahlplakat sympathisch? Dieses Urteil übertrage ich dann auf die Politik und Partei dieser Person.

Anderes Beispiel Kreditaufnahme: Ist dieser Mix aus Laufzeit, Raten, Zinsen, Tilgung und Besicherung der richtige für die nächsten 10 Jahre? Um das abschätzen zu können müssten wir versicherungsmathematische Kenntnisse haben. Also fragen wir uns einfach: Finde ich die Bankberaterin sympathsch und damit vertrauenswürdig?

Nicht anders beiden großen und umstrittenen Fragen unserer Zeit. Ist der Klimawandel menschengemacht oder natürlich? Wer von uns ist schon Klimaforscher und könnte die tausenden Studien dazu selbst lesen geschweige denn verstehen? Wir sind darauf angewiesen dass Wissenschaftler uns die wichtigsten Erkenntnisse in einfache Sprache und Bilder übersetzen. Und wenn sich zwei Fraktionen von Forschern widersprechen, müssen wir uns entscheiden: wem glaube ich? Der Mehrheit? Oder den Protagonisten die mir sympathischer erscheinen? Oder denjenigen die schon vorhandene Überzeugungen bestätigen? Wirklich aus eignener Erkenntis wissen können wir wenig.

Auch beim Corona-Virus gibt es Fraktionen. Die Mehrheit der Virologen und Epidemologen sagt uns: dies ist ein tödliche Pandemie. Einzelne Mediziner sagen: nicht gefährlicher als die normale Grippe. Auch hier gibt es eine Mehrheitsmeinung. Und es kann verlockend sein, die Minderheitsmeinung für glaubhafter zu halten, wenn ihr Narrativ plausibel ist und mehr dem entspricht was wir gerne glauben würden.

Und ist das nicht eine Ironie? Die Wissenschaft ist während der Aufklärung angetreten, ein System abzulösen, das nur auf Glaube basierte, nämlich Religion (und Aberglaube). Und wurde über die Zeit selbst zu einem System, dass außerhalb des inneren Zirkels auf Glaube basiert, weil in jedem Fachgebiet nur wenige Koryphäen mit Sicherheit sagen können: was stimmt und was nicht. Wir Laien müssen darauf vertrauen, dass die Standards wissenschaftlicher Abeit eingehalten wurden und die Peer Review funktioniert.  Selbst nachprüfen können wir so gut wie nichts. Wir sind verdammt dazu, zu glauben. Hoffentlich den richtigen Quellen.

Auch jeder von uns ist Experte in irgendwas. Doch außerhalb unseres beruflichen Fachwissens ist die Welt hochkomplex und die Menge dessen was wir nicht wissen bedeutend größer als die Menge dessen was wir sicher wissen. Was ist nun die Wahrheit? Im Zweifelsfall: Das was gut ohne uns auskommt. Denn der Wahrheit ist es egal ob wir an sie glauben. Oder für sie eintreten. Der Lüge nicht. Die will Follower.

Letztlich gibt es immer so viele Wahrheiten wie Menschen, denn jeder sieht die Welt durch seine eigenen Augen. Griffiger ist die Wirklichkeit. Also nicht die Welt der Ideen und Interpretationen sondern die sinnlich erfahrbare Welt. Ist der andere mi bös gesinnt? Darüber kann ich mich sehr täuschen. Eine Ohrfeige kann Klarheit schaffen, denn ist sehr real. Liebe ist mal ein Konzept, mal ein Gefühl, mal nur ein Wort. Ein Kuss ist real. 

Momentan leben wir einer Welt, die fast so aussieht wie immer. Man sieht weder dem Himmel noch den grünen Wiesen an, welche unsichtbare Gefahr uns gerade bedroht. Allmählich kommen Bilder dazu. An welche werden wir uns später erinnern wenn wir an das Jahr 2020 zurückdenken? Verzweifelte italienische Intensivmediziner? Leere Regale im Supermarkt? Mundschutz und Toilettenpapier? Maske tragen beim Friseur?

Ein Stresstest für unsere Gesellschaft und jeden einzelnen. Wir gut gehen wir mit Unsicherheit und Isolation um? Welche Sorgen machen wir uns, welche konkreten oder diffusen Ängste überschatten unser Gemüt? Hier hilft es, aus dem Gehirn und seinen Wahrnehmungsmustern in die direkte körperliche Erfahrung zu wechseln. Wenn wir zuhause auf dem Sofa sitzen, die Räume angenehm temperiert sind, der Magen gefüllt, das WLAN stabil ist, vielleicht sogar ein Liebelingsmensch neben uns sitzt – dann sind unsere unmittelbaren Bedürfnisse gestillt und es geht uns gut. Alles weitere ist Sekundärrealität und findet nur in unseren Gedanken statt. Gönnen wir System 1 und System 2 eine Pause und genießen wir die entschleunigte Zeit. Keiner wird verhungern. Das Leben wird weiter gehen – auch wenn ungewiss ist, wie lange es dauert bis wir wieder etwas Boden unter den Füßen haben. Der Berliner Virologe Christian Drosten erwartet, dass die Ausnahmesituation wegen der Corona-Pandemie ein Jahr dauern könnte. Dann wird es spannend, denn eines ist klar: das Leben, die Welt wird eine andere sein.

Eine abgewandelte Variante dieses Textes gibt es auch als Podcast zu hören: https://freisprechen.podigee.io/20-neue-episode

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